08.07.2019

Pionierin mit Herz und Sachverstand

Zum Tod von Waltraut Müller

„Sie war ein Segen für unsere Kinder und für uns Eltern“, sagt Irmgard Brandes, langjähriges Mitglied der Lebenshilfe Osnabrück, über Waltraut Müller. Sie war eines der ersten und vor allem eines der engagiertesten Mitglieder der Lebenshilfe Osnabrück. Als langjährige Leiterin der Tagesbildungsstätte an der Ernst-Sievers-Straße hat sich Waltraut Müller sowohl in ihrem Berufsleben als auch ehrenamtlich jahrzehntelang für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ebenso eingesetzt wie für deren Angehörige. Die Lebenshilfe Osnabrück verdankt ihr viel.

Waltraut Müller

Waltraut Müller (rechts) war den Kindern stets zugewandt.

Nach der Vertreibung aus ihrer schlesischen Heimat kam Waltraut Müller als junge Erzieherin ins Osnabrücker Land, wo sie zuerst in einem Waisenhaus, später im Kindergarten an der Tannenburgstraße arbeitete, in dem erstmals auch Kinder mit einer geistigen Einschränkung betreut wurden. Hier lernte sie Irmgard Kestner kennen. Diese war Vorsitzende des evangelischen Stadtverbandes und wurde auf die ambitionierte Waltraut Müller aufmerksam. Mit Gründung der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück konnte diese Räume in der Ernst-Sievers-Straße übernehmen. Hier wurde 1961 die Tagesbildungsstätte (heute Horst-Koesling-Schule) begründet und Waltraut Müller übernahm deren Leitung bis zu ihrer Pensionierung 1985. Parallel dazu engagierte sich Waltraut Müller in der noch jungen Osnabrücker Lebenshilfe. Mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Professionalität beeindruckte sie gleichermaßen Mitarbeitende, Eltern und den Verein.

Fachlichkeit und Kreativität

„Ihre Wohnung war voller Fachliteratur, sie war immer auf dem neuesten Forschungsstand und hatte die Fähigkeit, ihr Wissen praktisch umzusetzen und an uns zu vermitteln. Sie hat ihre Mitarbeiterinnen immer gefördert und gefordert“, erinnert sich FED-Leiterin Annette Pieper, die zehn Jahre lang mit Waltraut Müller in der Tagesbildungsstätte arbeitete. Die individuelle Einschätzung der Kinder auf einer professionellen Basis zählte ebenso zu den Neuerungen, wie kreative, auf jedes Kind abgestimmte Förderpläne. „Was heute zum Standard gehört, war damals ein Novum“, so Annette Pieper. „Sie wollte die Kinder soweit wie möglich fördern, um ihnen die größtmögliche Selbstständigkeit zu vermitteln.“ Die Grundlagen dafür hatte Waltraut Müller unter anderem im Studium bei Prof. Eberhard Schomburg, einem der Begründer der Heilpädagogik, in Hannover erworben. Ebenso wie er setzte sie sich für eine möglichst frühe Förderung der Kinder ein: „In der Tagesbildungsstätte liegen die Anfänge der Frühforderung in Osnabrück. Die Eltern kamen auf Empfehlung der Kinderärzte mit den Kleinen einmal wöchentlich, anfangs noch in die Turnhalle, später in eigene Räumlichkeiten“, beschreibt Annette Pieper die damalige Situation. Dort trafen auch viele Eltern, die in der Lebenshilfe waren – oder später Mitglieder wurden – die zugewandte Pädagogin.


Vertrauen auf den ersten Blick

So lernte auch Irmgard Brandes vor über 50 Jahren Waltraut Müller kennen: „Ich hatte sofort Vertrauen und Zutrauen zu dieser warmherzigen und zugleich starken Frau. Ich wusste sofort, dass dies der richtige Ort, der passende Weg und die beste Ansprechpartnerin für die weitere Entwicklung unseres Sohnes war.“ Zwischen der Mutter und Waltraut Müller entwickelte sich ein Freundschaft. „Nach ihrer Pensionierung traf sie sich auch regelmäßig mit uns Müttern zum Frühstück und zum Austausch.“ Die Beziehung zu den Eltern war Waltraut Müller ein besonderes Anliegen: „Sie hat sogar – was damals eher unüblich war – die Männer mit ins Boot geholt, zum Beispiel bei der Gestaltung der Spielplätze“, erinnert sich Irmgard Brandes. Gemeinsam mit anderen Eltern wollte sie ihrem Respekt und ihrer Dankbarkeit auf ganz besondere Weise Ausdruck verleihen: „Wir haben Waltraut Müller für den Elisabeth-Siegel-Preis vorgeschlagen. Leider ohne Erfolg.“


Brücken bauen, Netze knüpfen

Waltraut Müller war quasi rund um die Uhr im Einsatz für die Belange von Kindern und Jugendlichen mit Einschränkungen und für deren Eltern. „Was sie in ihrer beruflichen Tätigkeit nicht umsetzen konnte, hat sie in ihrem Ehrenamt bei der Lebenshilfe realisiert“, fasst es Franz Haverkamp, Vorsitzender der Lebenshilfe Osnabrück zusammen. So organisierte sie anfangs über ihre Mitarbeitenden Betreuungen, damit Eltern an Elternabenden teilnehmen konnten. Später wurde ein Helfernetzwerk daraus. „Das war die Grundlage für den Familienentlastenden Dienst der Osnabrücker Lebenshilfe, den FED“, nennt Annette Pieper ein wichtiges Beispiel. „Sie wusste, welche Probleme viele Familien bei der Betreuung ihrer Kinder mit Behinderung hatten – und sie tat etwas, um sie zu lösen.“ Ganz „nebenher“ organisierte Waltraut Müller kleine, informelle Gruppen und Treffen, in denen sich die Eltern – vor allem die Mütter – kennenlernen und austauschen konnten. „Die Erfahrung, nicht allein zu sein in dieser außergewöhnlichen Lebenssituation, war für viele ein wichtiger Halt“, weiß Franz Haverkamp. Dabei hatte Waltraut Müller immer die Ängste und Bedenken der Eltern verständnisvoll im Blick, im Fokus stand aber ihr Engagement für die Entwicklung der Kinder: „Sie ermunterte die Eltern deshalb auch, ihren Kindern mehr Selbständigkeit zuzutrauen und sie zu fordern“, erinnert sich Franz Haverkamp.


Unermüdliches Engagement

Mit dieser Haltung engagierte sich Waltraut Müller lange über das gewöhnliche Maß und Alter in der Osnabrücker Lebenshilfe, nahm interessiert und couragiert an Diskussionen und Entwicklungen Anteil. Bis zu ihrem Tod war Waltraut Müller unser Mitglied. Noch mit über 90 Jahren nahm sie an den Mitgliederversammlungen teil und las regelmäßig die Lebenshilfe-Zeitung. „Mit Waltraut Müller verlieren wir eine der Pionierinnen unseres Vereins“, sagt Franz Haverkamp und fügt hinzu: „Ihr Tod trifft aber auch viele unserer Mitglieder ganz persönlich.“

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